Digitalisierung in der Arztpraxis: zwischen TI, Fax und Zettelwirtschaft

Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen muss dringend an Fahrt gewinnen.

Das sehen wir auch so.

Doch was in unserem Alltag als Praxisinhaber erleben, ist an Absurdität teilweise kaum zu überbieten.

In diesem Artikel wollen wir den Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen im Herbst/Winter 2022 anhand von fünf Beispielen aus unserer Anästhesiepraxis dokumentieren.

Gute Unterhaltung!

Beginnen wir mit …

#1 Nerdtalk: Die Telematik Infrastruktur (TI)

Im Frühjahr 2022 erhielten wir einen Brief von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV).

Nach der Lektüre stellten wir zweierlei fest:

  1. Die Schriftsprache war deutsch
  2. Aufgrund einer Vielzahl von kryptischen Abkürzungen und technischer Begriffe musste der Adressat des Schreibens offensichtlich EDV-Sachverständiger sein

Das Problem war nur: der Brief war eindeutig an uns Praxisinhaber gerichtet.

Offenbar sollten wir …

  1. Irgendetwas mit unserer Praxis-Verwaltungs-Software (PVS) anstellen,
  2. Dringend diverse TI-Module installieren (auch wenn wir diese als Anästhesisten gar nicht nutzen können), und darüber hinaus
  3. Meldung an die KV über erfolgreichen Vollzug machen (andernfalls drohten empfindliche Honorarkürzungen)

ePA, eHBA und SMC-B

Von uns Ärzten wird selbstverständlich verlangt, dass wir Patienten in leicht verständlichem Deutsch über ihre Erkrankung und Therapie informieren sowie über die damit verbundenen Risiken aufklären.

Wir hingegen bekommen von der KV ein Schriftstück, gespickt mit einer Vielzahl von kryptischen Abkürzungen, die nicht erläutert werden.

Politik und ärztliche Selbstverwaltung (alias KV) erwarten offensichtlich von der Ärzteschaft, dass …

  1. neben dem immensen Aufwand der Patientenversorgung,
  2. deren Dokumentation,
  3. der hochkomplexen Abrechnung (inklusive der Sachkosten),
  4. der vorgeschriebenen Teilnahme an Fort- und Weiterbildungen,
  5. der Erörterung von Regressforderungen und Plausibilitätskontrollen,
  6. der Personalakquise sowie -führung,

…auch noch alle (Fehl)Entwicklungen beim Thema Telematik Infrastruktur mit voller Aufmerksamkeit, Interesse und Leidenschaft verfolgt werden.

Drohkulisse: Honorarkürzung

Mit aller Macht wird die Ärzteschaft unter Druck gesetzt, doch endlich die Digitalisierung voranzutreiben.

Es wird mit Kürzungen bei der KV-Honorarabrechnung gedroht, wenn zum Zeitpunkt XY die Praxissoftware nicht eAU-, ePA-, eHBA- und sonst was „ready“ ist.

Freundliche Mitarbeiter der TI-Abteilung der KV haben uns sogar angerufen und ihre Hilfe angeboten – man habe doch sicher Fragen zur TI, schließlich habe unsere Praxis noch nicht die entsprechende Software-Module installiert.

Gut, dass wir in den letzten Jahren die Einführung der TI sehr ambitioniert vorangetrieben haben und sofort über jedes digitale Stöckchen gehüpft sind, das uns hingehalten wurde!

Auf unsere Frage, wann wir endlich die Kosten für all die ganzen Software-Module erstattet bekommen, die wir bereits im Vorjahr gekauft und installiert hatten, blieb es am anderen Ende der Leitung verdächtig still …

Das mache eine andere Abteilung.

Ach so!

Wenn die eine Hand nicht weiß …

Interessant: Bei der KV bekommt eine Abteilung alle Rechnungen über die TI-Module, die wir bereits gekauft haben …

…und die „andere“ Abteilung erfährt davon nichts und geht davon aus, dass wir in puncto TI noch völlig jungfräulich unterwegs sind.

Ebenso wenig konnte bisher beantwortet werden, was wir Anästhesisten denn nun in der elektronische Patientenakte ePA speichern sollen.

Hierzu gibt es übrigens auch noch keine Stellungnahme seitens unserer Fachverbände!

Nur am Rande: Obwohl wir als Anästhesisten keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) ausstellen können (dürfen), müssen wir selbstverständlich das eAU-Modul installieren – und bezahlen.

Was die Kommunikation mit anderen Institutionen der ärztlichen Selbstverwaltung angeht, ist auch noch Luft nach oben …

#2 Keine Verbindung: Ärztekammer und KV

Im vergangenen Jahr wollten wir auf einem halben KV-Sitz eine ärztliche Mitarbeiterin anstellen.

Es fehlte zunächst die Eintragung der Kollegin ins Arztregister.

Dafür sollten seitens der Mitarbeiterin bei der KV vorgelegt werden:

Geburtsurkunde, Heiratsurkunde (bei Namenswechsel), Approbationsurkunde, Urkunden über Zusatzbezeichnungen, der Arbeitsvertag u.a.m.

Und das alles im Original!

Ein Termin vor Ort war wegen der Corona-Situation nicht möglich.

Daher sollten alle Unterlagen per Post geschickt werden und es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, doch beglaubigte Kopien schicken zu dürfen.

Fünf Tage vor Sitzung des Zulassungsausschusses erreichte uns folgende Nachricht der KV:

Die beglaubigte Kopie der Approbationsurkunde sei älter als drei Monate und müsse erneuert werden, denn die Approbation könne in der Zwischenzeit entzogen worden sein!

Die Dreimonatsfrist wurde übrigens willkürlich „intern“ gesetzt und ist keineswegs irgendwo vorgeschrieben …

Im Zweifel bremst die DSGVO

Mein Vorschlag, man könne doch schnell bei den Kollegen der Ärztekammer nachfragen, die säßen schließlich im selben Gebäude und sollten doch als erste Instanz wissen, ob die Approbation entzogen worden sei, wurde ich auf die DSGVO hingewiesen.

Mit anderen Worten:

Wegen Datenschutz sei kein Informationsaustausch zwischen beiden Körperschaften möglich.

Unsere bei der Ärztekammer hinterlegten CME-Fortbildungspunkte können hingegen sehr wohl von der KV eingesehen werden!

Und wenn wir nicht genug „gesammelt“ haben, dann gibt es, na klar: Honorarkürzungen.

Immerhin: unsere Mitarbeiterin durfte dann doch noch vor Ort vorbeikommen und Ihre Approbationsurkunde vorzeigen.

Digital-Health-Index: viel Luft nach oben

Es würde schon vieles einfacher, wenn KV und Ärztekammer gemeinsam auf solche Basisdokumente zugreifen könnten.

Und stets alles auf die (unsägliche) DSGVO zu schieben, erscheint auf Dauer auch zu billig – denn diese gilt schließlich überall in der EU.

Im Ausland scheint die Umsetzung der Digitalisierung im Gesundheitswesen interessanterweise weniger problematisch zu sein.

Wirft man einen Blick auf den Digital-Health-Index steht dort Deutschland abgeschlagen auf Platz 16 von 17.

Immerhin nicht letzter, könnte man sagen.

Wir wollen aber auch nicht alles schlecht reden …

#3 Goldstandard im Jahr 2022: Das Fax

Von der Bundespost 1978 als offizieller Dienst eingeführt, erlebte das Fax einen kometenhaften Aufstieg bis in die Mitte der 90er Jahre.

Ab diesem Zeitpunkt wurde es zunehmend von der E-Mail verdrängt.

Zunehmend …aber eben nicht vollständig.

Denn einige Institutionen, insbesondere in Deutschland, bleiben diesem über 40 Jahre alten Kommunikationsmittel treu ergeben:

Allen voran unsere Kassenärztliche Vereinigung (KV).

Alles safe beim Fax?

Begründet wird dies gerne mit der vermeintlichen Sicherheit der Daten.

Stimmt auch …fast …wenn wir noch mit analogen Telefonleitungen faxen würden.

Tun wir aber nicht.

Denn auch hier hat der Fortschritt Einzug gehalten und wir faxen digital über Server.

Von einem Medienrechtler haben wir dazu einmal folgende Formulierung gehört:

„Das Fax ist genauso sicher, als ob Sie Patientendaten auf einer Postkarte verschicken!“

Trotzdem gilt das Fax immer noch „Goldstandard“ in der medizinischen Kommunikation.

Ohne Fax keine Kommunikation?

Es ist noch nicht allzu lange her, als ich eine KV-Mitarbeiterin am Telefon hatte und sie mich nach unserer Faxnummer fragte.

Als ich ihr offenbarte, dass unsere Praxis keinen Fax-Anschluss besitzt, kam vollkommen ungläubig aus dem Telefonhörer:

„Sie haben kein FAX!? Wie kommunizieren Sie denn?“

Die Lösung nennt sich: E-Mail

Doch nicht bei der KV:

„E-Mails können bei uns nur auf einem Drucker, auf einer anderen Etage, ausgedruckt werden – da geht schnell mal was unter …“

Die KV steht damit nicht allein.

Auch OP-Pläne, Laborbefunde, Anträge gegenüber der KV, der Ärztekammer usw. werden weiter von Arztpraxen munter via Fax durch die Republik geschickt.

Bittet man um ein verschlüsseltes PDF per Mail, ist die Verwunderung häufig groß.

Uns ist selbstverständlich klar, dass ein verschlüsseltes PDF als Mail-Anhang nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann …

Unser Podcast zum Thema:

Podcast Spritze & Skalpell

#4 Zettelwirtschaft: Die Liebe zum Papier

Anfang 2021 haben wir unsere Buchhaltung vollständig digitalisiert und auf Datev Unternehmen Online umgestellt.

Bis heute ist es unserem Praxismanager leider nicht gelungen, restlos alle Lieferanten davon zu überzeugen, uns bitte keine Rechnungen mehr auf Papier zu schicken.

Und das nach unzähligen Telefonaten und E-Mails, in dem er flehentlich darum bat, Rechnungen nur noch in PDF-Form auszustellen.

Nun laufen immerhin etwa 95 Prozent aller Rechnungen digital bei uns auf, was wiederum andere Probleme mit sich bringt:

PDF reicht nicht

Ein großer Spaß für uns Anästhesisten, der einen weiteren Artikel wert wäre, stellt seit dem Jahr 2021 die Abrechnung von Sachkosten für Narkosen bei gesetzlich versicherten Patienten dar.

Hierfür müssen wir gegenüber der KV den Kaufbeleg für jeden einzelnen i.v.-Zugang, jedes Rückschlagventil, jede Infusionsleitung etc. beibringen.

Und zwar auf Papier!

Denn alle Kaufbelege zur Sachkosten-Abrechnung müssen laut KV in Papierform vorliegen.

Diese beruft sich diesbezüglich auf den Mantelvertrag mit den Krankenkassen.

Nun gut …

Ein kurzes Telefonat mit einer freundlichen Mitarbeiterin der KV später und wir durften unsere PDF-Rechnungen – etwas anderes haben wir schließlich nicht mehr – doch digital übermitteln.

Fun Fact:

Die PDF-Dateien werden bei der KV ausgedruckt und wir bekommen unsere Rechnungen dann gestempelt und gestapelt per Post zurück.

Yeah!

#5 Schnelles Internet: irgendwann …vielleicht

Wenn wir aus unserem Bürofenster schauen, lesen wir am Gebäude gegenüber den Schriftzug „Technologiepark“.

Unser Büro befindet sich in einem Kölner Gewerbegebiet, in dem derzeit ein Bürokomplex nach dem anderen hochgezogen wird.

Und ein paar Häuser weiter residiert in der gleichen Straße die IHK.

Das alles machte uns Naivlingen Hoffnung auf Glasfaser und schnelles Internet.

Denn in einer Großstadt wie Köln sollte im Gewerbegebiet („Technologiepark“) doch mehr drin sein als unsere mickrige VDSL 50 Leitung, oder?

Dachten wir.

Es gibt Hoffnung – aber nur kurz

Im Kundenbereich stellte unser Internetprovider mit dem großen „T“ ein paar richtige zügige DSL-Tarife in Aussicht.

Bis hin zu einer 1.000 Mbit-Leitung war alles dabei.

Allerdings nicht buchbar, sondern leider nur „reservierbar“.

Unsere Nachfrage bei der Hotline ergab, dass der dafür notwendige Glasfaserausbau lediglich „irgendwann in der Zukunft“ vorgesehen sei.

Eine konkrete Jahreszahl konnte beziehungsweise wollte man bei der Telekom damit jedoch nicht verbinden.

Schnelles Internet im Gewerbegebiet?

Irgendwann. Wahrscheinlich. Vielleicht. Wenn nix dazwischen kommt …

Digitalisierung in der Arztpraxis – das Fazit

Wir sehen in der Digitalisierung großes Potential zur Optimierung der Patientenversorgung.

Das steht außer Frage.

Was würden wir dafür geben, im Prämedikationsgespräch mit einem Patienten schnell „online“ einen Blick in dessen Medikation werfen zu können.

Oder wichtige Vorbefunde einsehen zu können.

Wir sind auch bereit, dafür zu investieren und uns zur Not durch kryptisch formulierte Schreiben zum TI-Ausbau zu kämpfen.

Im Gegenzug würden wir jedoch gerne sehen, dass es insgesamt mit der Digitalisierung vorangeht.

Anstatt weiter mit KV, Ärztekammer, Apotheken und anderen Lieferanten über die Unabdingbarkeit von Fax und Papier diskutieren zu müssen.

Es wäre schön, wenn wir uns dabei an funktionierenden Systemen orientieren könnten.

Unsere europäischen Nachbarn machen es vor.

Zu befürchten steht allerdings, dass das Rad in Deutschland mal wieder neu erfunden werden muss und am Ende leider eins mit vier Ecken dabei herauskommt …