„Ist dein Job nicht furchtbar langweilig?“
Wenn du in der Anästhesie arbeitest, hast du diesen als Frage charmant verpackten Vorwurf garantiert schon mal gehört.
Vermutlich mehr als einmal …
Sei es von Kollegen aus anderen (operativen) Fachrichtungen, von Studenten, Praktikanten oder sogar Patienten.
Das ist natürlich großer Quatsch!
Hier kommen fünf Argumente, warum Narkose machen alles andere als langweilig ist:
#1 Übung macht den Meister
Man kann nur Dinge richtig gut, die man tausendfach geübt beziehungsweise trainiert hat.
Wer ein Instrument spielt oder eine Sportart ausübt, die ein hohes Maß an Technik und Koordination verlangt, weiß wovon ich rede.
Nehmen wir die Musik:
Wie lange hat es gedauert, bis du ein paar (einfache) Stücke fehlerfrei spielen konntest?
Nehmen wir den Sport:
Wie viele Trainingsstunden waren notwendig, bis du den ersten Wettkampf bestreiten konntest, ohne völlig chancenlos zu sein?
Bereust du im Nachhinein die vielen Übungs- bzw. Trainingsstunden, die dafür notwendig waren?
Hast du dich in der Zeit gelangweilt?
Die 10.000-Stunden-Regel
Seit Jahren kursiert im Internet eine populärwissenschaftliche Theorie:
Wahre Meisterschaft in einer Sache erreicht man erst nach rund 10.000 Stunden.
Wie lange dauert noch einmal die Weiterbildung zum Facharzt in den allermeisten Fächern?
Richtig, 5 Jahre.
Das mag Zufall sein oder nicht
Und nach fünf Jahren Weiterbildung ist man ja noch lange nicht fertig.
Selbst als Facharzt lernt man laufend dazu.
Nach meinem Empfinden flacht sich die Lernkurve erst nach ca. 8-10 Jahren langsam ab.
Heißt: die Überraschungen werden im Arbeitsalltag weniger.
Während man sich gleichzeitig routinierter, erfahrener und sicherer im Job fühlt.
#2 Anästhesie sieht einfacher aus als es ist
Von außen betrachtet sieht Narkose machen – sofern es gut läuft – relativ unspektakulär aus:
Nach dem Zugang legen werden ein paar Spritzen mit klaren sowie milchig trüben Flüssigkeiten entleert, der Patient bekommt eine Maske aufs Gesicht, danach irgendeinen Plastikschlauch in den Mund und dann kann es meistens schon losgehen mit der Operation …
Das kann ja wohl nicht so schwer sein? Und dafür muss man „extra“ studieren?
Das Problem ist nur: es läuft eben nicht immer einfach gut.
Zumindest nicht von selbst …
Schon mal eine Maske gehalten?
Jeder, der mal selbst probiert hat, einen Patienten über Maske zu beatmen, weiß:
Diese trivial anmutende Tätigkeit kann ziemlich tricky sein.
Und erfordert, bis man es bei 99 von 100 Patienten gut kann, einiges an Übung.
Überhaupt ist die Sicherung des Atemwegs das Thema in der Anästhesie.
Denn wenn es hier Probleme gibt, dann wird’s plötzlich ganz, ganz spannend …
#3 Anästhesie ist nur ungefährlich, wenn man es kann
Immer wieder mal fragen mich Patienten kurz vor der Narkose-Einleitung:
„Spritzen Sie mir jetzt das, was Michael Jackson damals bekommen hat?“
Ja, mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass ich als Anästhesist weiß, was zu tun ist, wenn der Patient nach der Propofol-Injektion aufhört zu atmen!
Das schien der Leibarzt von Michael Jackson nicht gewusst zu haben – gut, er war eben Kardiologe und kein Narkosearzt.
Ich habe irgendwo mal das treffende Zitat gelesen:
Der Anästhesist stellt den Patienten mit der Narkose an den Rand des Todes.
Genau so ist es (siehe Michael Jackson).
Langeweile und Panik?
Wenn man es sich so überlegt, kann man bei der Anästhesie kaum von einer langweiligen Tätigkeit sprechen, oder?
Im Gegenteil:
Das sagen mir auch die allermeisten im Bekannten- und Freundeskreis:
„Deinen Job könnte (wollte) ich nicht machen – all diese Verantwortung …“
In Medizinerkreisen hört man hingegen immer wieder Sprüche wie:
„Anästhesie = Stunden der Langeweile, Minuten des Nervenkitzels, Sekunden des Terrors“
Oder „In 99 Prozent der Zeit Langeweile, in 1 Prozent Panik“
Ich halte beide Sprüche für Kokolores
Zum einen spüren alle interventionell tätigen Ärzte Nervenkitzel, wenn mal etwas schief läuft (Beispiel: Blutung bei Routine-OP) – nicht nur wir Anästhesisten.
Zum anderen sollte auch in solchen Situationen nie Panik herrschen.
Sondern Besonnenheit und dazu ein Konzept, um Komplikationen erfolgreich zu beherrschen.
Unser Video zum Thema:
#4 Kurze Wechsel lassen keinen Raum für Langeweile
Ja, in Krankenhäusern der Maximalversorgung gibt es sie:
Lange Eingriffe, in denen stundenlang nichts passiert, was das (akute) Eingreifen des Anästhesisten erfordern würde.
Zum Beispiel in der Neurochirurgie, wo in filigraner Feinarbeit unter dem Mikroskop ein Hirntumor entfernt wird.
Außer „Striche machen“, sprich: das Narkoseprotokoll führen, gibt es bei solchen „steady state“-Narkosen relativ wenig zu tun.
In der ambulanten Anästhesie sieht es anders aus
Insbesondere im ambulanten Bereich gibt es hingegen viel mehr kurze Eingriffe.
Und damit auch mehr Ein- und -Ausleitungen pro OP-Tag.
Dabei müssen die Wechselzeiten möglichst kurz sein, damit „die Anästhesie“ nicht den Betrieb aufhält.
Da kommt ehrlich gesagt selten Langeweile auf.
Man ist eher froh, wenn man sich zwischendurch mal hinsetzen kann.
#5 Routine gibt es in jedem Job
In Zeiten der Spezialisierung ist der Allrounder, der alles kann und macht, einfach nicht mehr zeitgemäß.
Diese Entwicklung lässt sich gut bei den chirurgischen Disziplinen beobachten.
Den Unfallchirurgen beispielsweise, der alles – in gleicher Qualität(!) – operieren kann, gibt es heute nicht mehr.
Stattdessen haben wir Spezialisten für Hand-, Fuß-, Hüft-, Knie-, Schulter- und Wirbelsäulen-Chirurgie.
Wird den Kollegen jetzt langweilig, weil sie ihr Spektrum freiwillig auf ein Gelenk respektive eine Körperregion beschränken?
Ich glaube kaum …
Freude durch Exzellenz
Man kann viel Befriedigung daraus ziehen, dass man eine Sache besonders gut macht.
Auch nach rund 20 Jahren in der Anästhesie habe ich immer noch Freude an punktgenauen Narkosen.
Bei denen der Patient mit Beendigung der operativen Maßnahmen die Augen aufschlägt und realisiert, dass er alles gut überstanden hat.
Obwohl es – von außen betrachtet – immer wieder dasselbe ist.
Dabei gleicht keine Narkose der anderen. Aus einem simplen Grund:
Jeder Patient ist anders
Die größte Variable in unserer ärztlichen Tätigkeit ist und bleibt immer der Patient.
Kein Patient gleicht dem anderen.
Weder charakterlich, anatomisch, physiologisch, noch was seine Vorerkrankungen und Lebensumstände angeht.
Selbst wenn man also zehn Mal nacheinander Narkose für den gleichen Eingriff macht:
Am Ende sind es zehn individuelle Patienten, die alle anders auf die Narkose reagieren, anders aufwachen etc.
Ist Anästhesie langweilig? – Das Fazit
Auch wenn es von außen betrachtet trivial erscheinen mag:
Nein, Anästhesisten machen nicht immer das Gleiche.
Und wie alles im Leben ist es eine Frage der richtigen Perspektive.
Wir tragen schließlich bei jeder einzelnen Narkose Verantwortung für das Leben eines Menschen.
Das spüren auch die Patienten und sind uns dafür sehr dankbar.
Langeweile kommt da jedenfalls keine auf.