Pro und Contra: Als Anästhesist im Krankenhaus vs. in der Praxis

Was vielen Leuten nicht klar ist:

Als Anästhesist kann man nicht nur im Krankenhaus arbeiten.

Sondern auch im ambulanten Bereich.

Es gibt allerdings ein paar nennenswerte Unterschiede zwischen der Arbeit von Anästhesisten im Krankenhaus und in der Praxis.

In diesem Artikel stellen wir die wichtigsten Vor- und Nachteile beider Tätigkeitsbereiche vor:

Vorteil KH #1 – Höhere Fallschwere

Im Krankenhaus finden sich Patienten aller ASA-Kategorien (I bis V).

Anästhesisten werden hier regelmäßig mit operativen Patienten konfrontiert, die zum Teil schwere Begleit- und Vorerkrankungen mitbringen.

Oder sich in einem akut schlechten Zustand befinden – sei es als Folge eines Unfalls oder einer akuten Erkrankung, die eine chirurgische Intervention notwendig macht.

Beispiel: Ileus mit beginnender Sepsis.

Patienten mit höheren ASA-Kategorien erfolgreich durch eine Operation zu bringen – elektiv, dringlich oder als Notfall – ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, die Anästhesisten einiges abverlangt.

Das ist herausfordernd und befriedigend zugleich.

Vorteil KH #2 – Größere Operationen

Nicht nur die Fallschwere ist im Krankenhaus häufig hoch. Die Invasivität der Eingriffe ist es ebenfalls.

Viele große, komplexe Operationen wären ohne die anschließende Behandlung auf der Intensivstation gar nicht durchführbar.

Solche Eingriffe fordern von Anästhesisten einen sicheren Umgang mit kreislaufwirksamen Medikamenten (Katecholaminen), Blut- und Gerinnungsprodukten (EK, FFP, TK, Fibrinogen etc.) sowie diversen diagnostischen Verfahren.

Kurzum: im Krankenhaus machen Anästhesisten regelmäßig „große Medizin“ – zumindest an Häusern der Maximalversorgung.

Was uns direkt zum nächsten Punkt führt:

Vorteil KH #3 – Spannende Fälle

Was Anästhesisten unter einem spannenden Fall verstehen:

Die Kombination aus einem akut „schlechten“ Patienten sowie die zu seiner Rettung erforderlichen invasiven Maßnahmen.

Es sind gerade solche „life or death cases“, die viele (junge) Mediziner ins Fachgebiet der Anästhesie ziehen – so auch mich damals.

Nicht zuletzt aufgrund der großen Schnittmenge zur Notfall- und Intensivmedizin.

Bedauerlicherweise ereignen sich überproportional viele spannende Fälle leider zu „ungünstigen“ Zeiten, sprich: nachts und am Wochenende.

Womit wir direkt beim ersten und vermutlich größten Nachteil wären, der mit der Arbeit eines Krankenhaus-Anästhesisten verbunden ist:

Nachteil KH #1 – Dienstbelastung

Egal ob Schicht-, Wechsel-, Ruf- oder Bereitschaftsdienst:

Vor allem die Nachtarbeit ist auf Dauer nicht gesund. Und besonders sozialverträglich auch nicht.

Wenn ich an mein Pflichtjahr auf der Intensivstation an der Uniklinik zurückdenke …

…fällt mir als erstes ein, wie wenig und schlecht ich damals geschlafen habe.

Und wie häufig ich in diesem einen Jahr krank war. Mit dem Schlafrhythmus ging offensichtlich auch mein Immunsystem flöten.

Was mir noch einfällt

Mit welchem Heißhunger wir uns in den Nachtdiensten irgendeinen Mist reingestopft haben.

Kalte, fettige Pizzen und matschige Pommes lassen grüßen.

Ran gekarrt wurden die kulinarischen Finessen irgendeines Lieferdiensts. Denn in deutschen Krankenhäusern galt und gilt vermutlich auch heute noch immer:

Die Mitarbeiter dürfen (müssen) zwar rund um die Uhr arbeiten. Wie sich dabei verpflegen, ist allerdings Privatsache.

Eine 24-Stunden-Kantine?

Leider Fehlanzeige.

Nachteil KH #2 – Dauer der OPs

Lange Operationen, bei denen wenig passiert – zumindest aus Sicht von Anästhesisten -, gehen mit einem relativ hohen Langeweile-Faktor einher.

Nach der Einleitung wird die Anästhesie-Maschine auf „Autopilot“ gestellt und abgesehen von ein paar turnusmäßigen Wechseln der Perfusor Spritzen und Infusionsflaschen hat man stundenlang kaum etwas zu tun.

Gut, man kann währenddessen die A&I lesen.

Gala, Kicker oder Jagd & Hund im OP-Saal kommen bei den meisten Chefärzten erfahrungsgemäß eher nicht so gut an.

Zumindest war das früher so …

Nachteil KH #3 – Reibereien und Konflikte

Einer der Punkte, die im Krankenhaus wirklich nerven, sind die vielen, sinnlosen Konflikte und Reibereien zwischen den Fachabteilungen.

Insbesondere an der Uniklinik habe ich ein gepflegtes Gegeneinander zwischen manchem Chirurgen und „der Anästhesie“ erlebt.

Hinzu kommen die Reibereien untereinander im Kollegium. Dafür sorgt in jeder Abteilung zuverlässig das Thema Dienstplanung.

Warum manche Kollegen Heiligabend und Silvester Dienst schieben müssen, während andere Jahr für Jahr an beiden Tagen frei haben, gehört zu den gut gehüteten Geheimnissen jeder Anästhesie-Abteilung.

Nachteil KH #4 – Kein schöner Ort zum Arbeiten

Bis zur Decke gekachelte OP-Säle ohne Tageslicht, lieblos gestaltete Pausenräume, üselige Dienstzimmer …

Die allermeisten Krankenhäuser sind keine Orte, an denen Menschen gerne viel Zeit verbringen. Zumindest nicht freiwillig.

Aus Sicht der Patienten ist das einigermaßen nachvollziehbar, aus Sicht der Mitarbeiter allerdings schade.

Als Anästhesist erträgt man das lieblose Ambiente vieler Häuser einfach nur, weil es eben der Ort ist, an dem man dem selbstgewählten Beruf nachgeht.

Hinzu kommt, dass für viele Krankenhaus-Anästhesisten nicht mal das Stillen von absoluten Basisbedürfnissen wie Trinken oder der Toilettengang ohne weiteres möglich ist.

Man muss schließlich erst einmal jemanden finden, der einen im Saal ablöst. Das kann schon mal dauern – wenn überhaupt jemand frei steht …

Unser Podcast zum Thema:

Podcast Spritze & Skalpell

Nachteil KH #5 – Verwaltung gegen Ärzte

Ein weiterer Punkt, der die Verbundenheit zum Krankenhaus nicht gerade intensiviert:

Die Art und Weise, wie sich die Personalverwaltung in manchen Häusern gegenüber der Ärzteschaft (und auch anderen Berufsgruppen) aufführt.

Das fängt bei einem latent geringschätzigen Umgangston an und hört bei fehlerhaften Abrechnungen der geleisteten Dienststunden – zufällig stets zulasten der Mitarbeiter– leider nicht auf.

Wertschätzung fühlt sich jedenfalls anders an.

Verlassen wir nun das Krankenhaus und werfen einen Blick auf die Vorteile der Arbeit in der Anästhesiepraxis:

Vorteil Praxis #1 – Planbare Freizeit

Der Hauptgrund, warum Anästhesisten das Krankenhaus verlassen, dürfte die viel zitierte bessere Work-Life-Balance sein.

Ohne jegliche Dienstbelastung sieht das Leben in der Anästhesiepraxis einfach anders aus.

Jede Nacht im eigenen Bett zu schlafen, Freizeitaktivitäten am Nachmittag oder Abend ohne Einschränkungen planen zu können und jedes Wochenende mit Freunden oder der Familie verbringen zu können, ist ein unschätzbarer Vorteil.

Neben einem ungestörten Schlafrhythmus bleibt so auch mehr Zeit für Sport und andere Aktivitäten, die der Gesundheit zugutekommen.

Vorteil Praxis #2 – Miteinander mit Operateuren

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Krankenhaus und Anästhesiepraxis ist die „Schlagzahl“ im OP.

Statt weniger großer Eingriffe werden beim ambulanten Operieren viele kürzere durchgeführt.

Um kostendeckend zu arbeiten, ist eine gewisse Mindestzahl an Operationen pro OP-Tag absolut notwendig.

OP-Pläne mit 10 oder mehr Patienten pro Saal und Tag sind im ambulanten Bereich daher keine Seltenheit.

Da bleibt kein Platz für Reibereien zwischen dem operativen und dem anästhesiologischen Team – allein schon aus ökonomischen Gründen.

Vorteil Praxis #3 – Teamwork mit Anästhesiepflege

Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht in der engen Zusammenarbeit zwischen Anästhesist und seiner Assistenzkraft im ambulanten OP.

Anders als in der Klinik gibt es hier eine feste 1:1-Bindung.

Dadurch sind die Narkose-Assistenten, in der Regel ATAs oder Anästhesiepflegekräfte, viel mehr in die Narkoseführung und die Arbeit direkt am Patienten eingebunden.

Das macht die Arbeit für beide Seiten nicht nur vertrauensvoller, sondern auch befriedigender als es die Personalsituation in jeder Klinik zulässt.

Dort arbeiten Anästhesie-Assistenten in der Regel ohne feste Saalbindung und „springen“ von Einleitung zu Einleitung …

Das spiegelt sich auch im folgenden Punkt wider:

Vorteil Praxis #4 – Fokus auf Qualität

Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag:

Die Anforderungen an die Qualität der Narkosen sind in der Praxis mindestens genauso hoch wie in der Klinik.

Aus meiner Sicht sogar höher.

Bei ambulanten, also grundsätzlich elektiven Eingriffen, geht es schließlich nicht darum, dass der Patient den Eingriff und die damit verbundene Narkose irgendwie überlebt.

Das darf als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden.

Sondern dass der Patient die operative Praxis nach einem möglichst kurzen Aufenthalt zu Fuß verlassen kann.

Dieser Anspruch der Patienten in Verbindung mit einem vollgepackten OP-Programm macht eine Narkoseführung erforderlich, die absolut „auf den Punkt“ ist.

Stichwort: kurze Wechselzeiten

Idealerweise läuft der Patienten spätestens 5 Minuten nach Beendigung der operativen Maßnahmen auf eigenen Beinen vom OP-Saal in den Aufwachraum – sofern nicht gerade an der unteren Extremität operiert wurde, versteht sich.

Die hohe Schlagzahl in der ambulanten Anästhesie bedingt kurze Wechselzeiten. Und das selbstverständlich ohne Abstriche bei der Patientensicherheit zu machen.

Dies führt zu einem Anforderungsprofil für ambulant tätige Anästhesisten, das kaum Raum für Langeweile bietet.

Vorteil Praxis #5 – Mehr Dankbarkeit

Spätestens die zentralen Einleitungsräume, die mittlerweile an vielen Kliniken verbreitet sind, haben dazu geführt, dass „die Narkose“ in bis zu fünf Einzelprozesse zergliedert wird:

  1. Vorgespräch (Aufklärung)
  2. Einleitung
  3. Narkose während der OP
  4. Ausleitung
  5. Aufwachraumphase

Die Anästhesistin, die das Aufklärungsgespräch geführt hat, ist selten diejenige, die auch die Narkose einleitet.

Der Kollege, der wiederum die Narkose einleitet, ist häufig ein anderer als derjenige, der den Patienten während der Operation im Saal betreut.

Und so weiter und so fort …

Effizienz statt Bindung

Das mag zu einer Prozessoptimierung im Sinne einer Ressourceneffizienz führen – die (knappe) Ressource ist das ärztliche sowie nicht-ärztliche Anästhesiepersonal.

Zu einem intensiveren und empathischen Kontakt mit den behandelten Patienten führt dieses Vorgehen ganz sicher nicht.

So ist es kein Wunder, dass Anästhesisten im ambulanten Bereich mehr Dankbarkeit entgegengebracht wird als man dies aus der Klinik gewohnt ist.

Denn hier werden Aufklärungsgespräch (Prämedikation), Narkose und Nachbetreuung im Aufwachraum noch durch ein und dieselbe Person erbracht.

Natürlich hat die Arbeit als Anästhesist in der Praxis nicht nur Vorteile …

Nachteil Praxis #1 – Keine großen Fälle

Wer für sein Seelenheil – oder sagen wir: Ego – nicht auf die „große Medizin“ (siehe oben) verzichten kann, wird in der Anästhesiepraxis wohl kaum glücklich.

Viele Arbeitstechniken und Verfahren, mit denen man in der Klinik glänzen kann, sind in der ambulanten Anästhesie schlicht nicht existent:

Die Rede ist von ZVKs, invasiven Blutdruckmessungen („Arterie“), Peridualanästhesien, TEEs und anderem mehr.

Ja, man schränkt auf der einen Seite sein Spektrum als Anästhesist ein, steht aber auf der anderen Seite vor Herausforderungen, die in der Klinik meist nur ein Randthema sind:

Optimales Narkose-Timing und hoher Patienten-Komfort.

Nachteil Praxis #2 – Fahrerei

Die Arbeit in der ambulanten Anästhesie geht typischerweise mit einem gewissen Maß an Fahrerei einher.

Es sei denn, man ist ausschließlich in einem OP-Zentrum tätig.

Die Tätigkeit in unterschiedlichen operativen Praxen ist verbunden mit mehr oder minder langen Fahrtstrecken.

Immer abhängig davon, wo man wohnt und wie die Kooperationspartner der Anästhesiepraxis um den eigenen Wohnort herum verteilt sind.

In mehreren operativen Praxen tätig zu sein, hat jedoch auch Vorteile:

Man sieht jeden Tag andere Gesichter, hat andere räumliche Gegebenheiten und erlebt auf diese Weise eine Menge Abwechslung.

Kommen wir zum letzten Punkt, über den viele Anästhesisten nur hinter vorgehaltener Hand reden:

Nachteil Praxis #3 – Kaum Prestige

Bedauerlicherweise haftet der ambulanten Anästhesie ein gewisses
„Schmuddelimage“ an, zumindest aus Sicht vieler Krankenhaus-Anästhesisten.

Wer das Krankenhaus verlässt, gilt nicht selten als „Aussteiger“ oder „low performer“.

Schließlich macht man in der ambulanten Medizin nur noch langweilige Sachen – so die Denke vieler Kollegen in der Klinik.

In der von Klinikärzten dominierten Anästhesie-Community gilt die Arbeit in der Niederlassung als ungefähr so prestigeträchtig wie eine Fahrt im Dacia.

Um im Auto-Bild zu bleiben:

Verglichen damit ist eine Oberarztstelle im Krankenhaus so etwas wie der VW, die gleiche Position an der Uniklinik quasi der BMW unter den Karriereoptionen in der Anästhesie.

Krankenhaus vs. Anästhesiepraxis – das Fazit

Die Arbeit im Krankenhaus, insbesondere bei Maximalversorgern, ist eine harte, aber gute Schule für Anästhesisten.

In zumindest einer großen Klinik sollte man während seiner Laufbahn ein paar Jahre tätig gewesen sein, um alles Wesentliche in der operativen Medizin gesehen zu haben.

Auch wenn es häufig kein Zuckerschlecken war: ich möchte meine fünfeinhalb Jahre an der Uniklinik Düsseldorf nicht missen.

Wenn man einmal alles gesehen und gemacht hat, ist die Arbeit in der ambulanten Anästhesie eine absolut vollwertige Alternative zum Krankenhaus.

Hier lassen sich ein ausgeglichenes Privat- sowie ein anspruchsvolles Berufsleben auf Dauer am Besten miteinander verbinden.