Das ambulante Operieren hat aus Sicht der Patienten viele Vorteile:
Der Aufenthalt im operativen Setting beschränkt sich auf wenige Stunden – so ist man schnell wieder im gewohnten häuslichen Umfeld.
Doch nicht jeder Patient eignet sich für eine Operation respektive Narkose unter ambulanten Bedingungen.
Um Zwischenfälle und Komplikationen zu vermeiden, gilt es jene Patienten herauszufiltern, bei denen das Risikoprofil eine stationäre Versorgung notwendig macht.
In der Praxis kommt meist uns Anästhesisten die Rolle der (abschließend) prüfendenden Instanz zu.
Welche absoluten und relativen Kontraindikationen wir für Narkosen unter ambulanten Bedingungen sehen, erfährst du in diesem Artikel.
Es beginnt mit der Patientenselektion
Vor Jahren habe ich irgendwo im Internet ein Foto gesehen, das ein Hinweisschild an einer Backsteinwand zeigte.
Darauf stand sinngemäß in Englisch folgendes geschrieben:
Unsere Anästhesie-Sprechstunde für ambulante OP-Patienten befindet sich im 2. OG. Es gibt keinen Aufzug. Sollten Sie es zu Fuß nicht in die 2. Etage schaffen, sind Sie nicht geeignet für eine Operation unter ambulanten Bedingungen.
Klingt hart, aber bringt die Sache auf den Punkt:
Die Auswahl der richtigen Patienten sollte oberste Priorität zur Vermeidung von (kritischen) Zwischenfällen haben.
Im Zweifel gilt: „better safe than sorry“!
Unsere Erfahrung zeigt:
…reagieren so gut wie alle Patienten darauf sehr verständnisvoll und sind dankbar für die Fürsorge, die man Ihnen zuteilwerden lässt.
Auch wenn dies bedeutet, dass die Operation in der Praxis nicht wie gewünscht stattfinden kann.
Schauen wir uns nun eine Reihe von Begleitumständen an, die gegen die Anästhesie unter ambulanten Bedingungen sprechen:
Absolute Kontraindikationen
In der Praxis relevant sind die folgenden Punkte:
Nicht-Nüchternheit
Eine zugegebene oder auch nur fragliche Nicht-Nüchternheit ist aufgrund der Aspirationsgefahr ein klares Ausschlusskriterium für Anästhesieleistungen bei elektiven Operationen.
Es gelten die allseits bekannten Nüchterngrenzen:
Mindestens sechs Stunden Karenz für feste Nahrung und zwei Stunden für Wasser und andere klare Flüssigkeiten.
Wir führen bei Nicht-Nüchternheit auch keine Analgosedierung durch, bei der die Schutzreflexe Husten und Schlucken zumindest in der Theorie erhalten sind.
Insbesondere bei betagten Patienten mit langer Kreislaufzeit bewegt man sich hier jedoch auf einem schmalen Grat.
Und die Grenze zur „leichten“ Maskennarkose – dann ohne suffiziente Schutzreflexe – ist unabsichtlich schnell überschritten.
Fehlende Begleitperson
Neben der Nüchternheit ist das Vorhandensein einer erwachsenen Begleitperson die zweite wesentliche Voraussetzung für die Durchführung einer ambulanten Narkose.
Grund ist die eingeschränkte Verkehrstüchtigkeit für bis zu 24 Stunden nach der Gabe von systemisch wirksamen Anästhetika wie beispielsweise Propofol.
Alternativ können die Patienten auch mit dem Taxi fahren und sich vom Taxifahrer von der Praxis- bis zur eigenen Wohnungstür begleiten lassen.
Die Weigerung, weder eine Begleitperson zu organisieren, noch mit dem Taxi zu fahren, ist definitiv ein K.o.-Kriterium und führt uns direkt zum nächsten Punkt:
Völlige Incompliance
Patienten, die bereits im Vorgespräch Grundsatzdiskussionen über einfache Verhaltensregeln vom Zaun brechen, lassen die notwendige Compliance vermissen, die für eine sichere Durchführung der ambulanten Narkose erforderlich ist.
Offensichtliche Uneinsichtigkeit bezüglich der beiden zuvor genannten Punkte (Nüchternheit und Begleitperson) ist aus unserer Sicht daher eine Kontraindikation für eine OP unter ambulanten Bedingungen.
Adipositas per magna
Ausgeprägte Fettleibigkeit (Adipositas Grad 3) ist mit einem signifikanten Sicherheitsrisiko für die Anästhesie verbunden.
Unter Spontanatmung im Sitzen können Patienten mit Adipositas per magna ihren erhöhten intraabdominellen Druck meist gut kompensieren.
Im Liegen – insbesondere wenn die Operation eine flache Rückenlage erfordert – kommt es jedoch bei einer Vollnarkose schnell zu einem Zwerchfellhochstand mit nachfolgender Atelektasen-Bildung und potenziell kritischer Entsättigung.
Unüberwindbare Sprachbarriere
Ohne ausreichendes Sprachverständnis ist eine rechtsgültige Risikoaufklärung nicht möglich.
Entweder der Patient kann dem Aufklärungsgespräch inhaltlich folgen oder eine dritte Person muss als Dolmetscher fungieren.
Ist beides nicht gegeben, kann keine Operation und Narkose unter ambulanten Bedingungen stattfinden und der Termin muss verschoben werden.
Minderjährige ohne Erziehungsberechtigte
Ein weiteres Problemfeld sind Kinder respektive Jugendliche, die jünger als 16 Jahre sind und in Begleitung von Familienangehörigen oder Freunden, aber ohne Erziehungsberechtigte zur Operation erscheinen.
Auch hier ist die rechtskräftige Risikoaufklärung der limitierende Faktor.
Häufig wird die Unterschrift der Erziehungsberechtigten im Vorhinein geleistet – quasi blanko.
Ohne dass zuvor ein entsprechendes Aufklärungsgespräch stattgefunden hätte.
Letzteres sollte zumindest telefonisch vor der Operation nachgeholt und schriftlich auf den Aufklärungsunterlagen vermerkt werden.
Unser Video zum Thema:
Relative Kontraindikationen
Es gibt selbstverständlich auch Grenzfälle, bei denen individuell über die Narkosefähigkeit unter ambulanten Bedingungen entschieden werden muss:
Adipositas Grad 2
Bei mittelschwerer Adipositas kommt es stark auf die Art der Fettverteilung an, ob im Rahmen der Narkose mit Komplikationen zu rechnen ist.
Als Faustregel gilt:
Der sogenannte Apfeltyp mit einem hohen Taille-Hüft-Verhältnis macht hier eher Probleme als der Birnentyp, bei dem das Hüftfett überwiegt.
Patienten mit einem Körpergewicht von über 120kg sollten jedenfalls im Vorfeld vom Anästhesisten gesehen und ihr Gesamtrisiko evaluiert werden.
Betagte Patienten
Mit dem Alter steigt das Risiko für eine postoperative kognitive Dysfunktion (POCD) nach Narkosen und Operationen.
Aus diesem Grund sind wir sehr zurückhaltend, was die Durchführung von Vollnarkosen bei Patienten über 80 Jahren betrifft.
Sofern es der Eingriff zulässt, sehen wir bei dieser Patientengruppe die Analgosedierung als Verfahren der Wahl an.
Bei außergewöhnlich fitten, sportlichen Senioren lässt sich hingegen meist auch eine Vollnarkose im ambulanten Setting gut vertreten.
Symptomatischer Reflux
Äußert ein Patient refluxartige Beschwerden, ist im Vorgespräch eine eingehende Exploration der Symptome notwendig.
In den meisten Fällen liegt nur ein mehr oder minder ausgeprägtes Sodbrennen vor, welches im Zusammenhang mit der Aufnahme gewisser Speisen (scharf, fettig, süß etc.) steht.
Bei Patienten, die über Beschwerden auch unabhängig von der Nahrungsaufnahme klagen und und bei denen einen Therapie mit Protonenpumpenhemmern wie Pantozol nicht zu Beschwerdefreiheit führt, muss von einem symptomatischen Reflux ausgegangen werden.
Sofern es der Eingriff erlaubt, versorgen wir diese Patienten mit einer flachen bzw. Opioid lastigen Analgosedierung unter Erhalt der Schutzreflexe.
Erfordert die Operation zwingend eine Vollnarkose, müssen die Patienten vorher internistisch gesehen und die Refluxsymptomatik suffizient behandelt werden.
Irreversibler MAO-Hemmer
Ein seltenes aber durchaus relevantes Problem ist die Dauertherapie mit einem irreversiblem MAO-Hemmer wie „Jatrosom“ (Wirkstoff: Tranylcypromin).
Dieses nimmt heute in der Therapie von Depressionen eher die Rolle eines Reservemedikaments ein.
Die Gebrauchsinformation hat es allerdings in sich und ist für Anästhesisten hoch relevant:
„Ist bei Ihnen ein operativer Eingriff geplant, bei dem Narkosemittel und bestimmte Schmerzmittel verwendet werden, sollte Ihr Arzt Jatrosom 14 Tage vorher absetzen. Es wurde über Wechselwirkungen von ähnlichen Arzneimitteln wie Jatrosom mit Narkosemitteln berichtet, die in manchen Fällen schwerwiegend waren (z. B. instabiler Kreislauf, Koma).“
Aus diesem Grund bestehen wir vor der Durchführung einer Narkose auf einer 14-tätigen Pausierung der Jatrosom-Medikation.
Wer den Text bis hierhin gelesen hat, könnte auf die Idee kommen, dass Anästhesisten bevorzugt nach Gründen suchen, warum eine ambulante Operation nicht stattfinden kann.
Dem ist natürlich nicht so.
Noch einmal:
Glücklicherweise fällt ein großer Teil der ambulanten Patienten in die folgende Kategorie:
Der ideale Patient
Der ideale ambulante Patient gehört zu den ASA-Kategorien I oder II und lässt ein hohes Maß an Compliance erkennen:
- Er oder sie erscheint 10 Minuten vorm Termin an der Anmeldung,
- hält sich penibel an die besprochenen Nüchterngrenzen,
- hat eine Begleitperson organisiert,
- trägt bequeme und saubere Kleidung,
- hat Schmuck und Piercings entfernt,
- morgens geduscht und die Zähne geputzt.
Der ideale Patient hat zudem den gewissenhaft ausgefüllten Fragebogen für das Anästhesieaufklärungsgespräch sowie seine Versichertenkarte dabei.
Ältere Semester können auf Verlangen einen Medikamentenplan präsentieren.
Manche bringen sogar so etwas wie einen „medizinischen Lebenslauf“ mit, in dem sie alle Operationen ihres Lebens in chronologischer Reihenfolge aufgelistet haben.
Das nennen wir: vorbildlich!
Hätten wir eine funktionierende(!) digitale Vernetzung im Gesundheitswesen, bliebe sowohl uns als auch den Patienten eine Menge Papierkram erspart.
Aber das ist noch einmal ein anderes Thema.
Risikoscreening im Vorgespräch
Die Angaben der Patienten im Aufklärungsbogen sind häufig leider unvollständig.
Da werden gerne mal Allergien, Operationen, Herzinfarkte, Thrombosen und andere medizinisch relevante Ereignisse vergessen.
Was meist keine Absicht, sondern der Aufregung der Patienten vor ihrem Eingriff geschuldet ist.
Um alle absoluten und relativen Kontraindikationen im Rahmen des (anästhesiologischen) Vorgesprächs zu erfassen, sollten die folgenden Punkte gezielt abgefragt werden:
- Nüchternheit (ggf. mehrfach nachfragen und Relevanz erläutern)
- Begleitperson namentlich benennen lassen – sofern nicht vom Patienten im Aufklärungsbogen notiert
- Allergien & Unverträglichkeiten (insbesondere in Bezug auf Medikamente)
- Belastbarkeit klären (>2 Etagen ohne AP/Dyspnoe?)
- Bei Kindern <16 Jahren Sorgerecht klären (sind beide Elternteile einverstanden?)
- Bei Angabe von Sodbrennen Symptomatik explorieren (echter Reflux ja/nein?)
Eine Frage bei der sich die Geister scheiden:
Sollte der Anästhesist vorher anrufen?
Für die etwas reiferen Anästhesisten in der Niederlassung – sagen wir die Ü55-Fraktion – gehört der Anruf des Anästhesisten beim Patienten im Vorfeld der Operation schlicht zum guten Ton.
Unserer Erfahrung nach hält sich der (medizinische) Nutzen dieser Anrufe jedoch sehr in Grenzen.
Patienten ohne nennenswerte Vorerkrankungen können problemlos am OP-Tag vor der Operation vom Anästhesisten gesehen und aufgeklärt werden.
Patienten mit relevanten Vorerkrankungen sollten vom Operateur eh im Vorfeld herausgefiltert und dem Anästhesisten vorgestellt werden.
Dafür muss der Patient aber in persona gesehen werden!
Denn im Rahmen eines Telefonats lässt sich kaum beurteilen, ob beispielsweise das Fettverteilungsmuster Beatmungsprobleme bei der Narkose erwarten lässt.
Oder ein fliehendes Kinn so ausgeprägt ist, dass es für Intubationsschwierigkeiten sorgt …
Es gilt also: Angucken geht vor Anrufen!
Ambulante Anästhesie und Patientenselektion – das Fazit
Sowohl Operateur als auch Anästhesist haben Interesse an einem reibungs- und komplikationslosen OP-Ablauf.
Um diesen zu gewährleisten, ist eine sorgfältige Selektion der Patienten im Vorfeld notwendig.
Die Sicherheit des Patienten steht dabei immer an erster Stelle, auch wenn dieser sich eine Operation im ambulanten Setting wünscht.
Liegen absolute Kontraindikationen gegen die Durchführung einer ambulanten Narkose vor, sollte die Operation unter stationären Bedingungen erfolgen.
Bei relativen Kontraindikationen ergibt eine weitere Abklärung der Problematik nicht selten, dass die Anästhesie doch ambulant ohne größere Bedenken durchgeführt werden kann.
Bei Sicherheitsbedenken, die sich nicht im Vorfeld partout nicht ausräumen lassen, sollten die Patienten im Zweifel lieber ans Krankenhaus verwiesen werden.