Nach unserem ersten Artikel zur Digitalisierung im Gesundheitswesen wollen wir nun quartalsweise über das Thema berichten.
Dabei beschäftigen wir uns heute einmal intensiver mit der TI, der Telematik-Infrastruktur.
Die Telematik-Infrastruktur: ein kommunikatives Waterloo
Für alle, die es noch nicht wissen:
„Die Telematikinfrastruktur (TI) ist die Datenautobahn des Gesundheitswesens. Sie soll eine schnelle und sichere Kommunikation zwischen Ärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und anderen ermöglichen.“
Quelle: KBV Website
Klingt super!
In der Realität, sprich der Arztpraxis, verhält sich die Sache allerdings deutlich komplizierter …
Wir zitieren aus einer Mail von unserem PVS-Anbieter, die uns im Oktober 2022 erreicht hat:
“Wie Sie bereits unseren Update-News Q4/22 entnehmen konnten, muss mit der Quartalsabrechnung Q4/22 die Vorhaltung der PVS-Module NFDM (Notfalldatenmanagement) und eMP (elektronischer Medikationsplan) gemäß KBV-Vorgabe in die Abrechnungsdatei übermittelt werden.
[…]Sollte die Nichtvorhaltung der PVS-Module für NFDM/eMP zu Sanktionen führen, werden diese durch die KV veranlasst. Sollte Ihnen die KV keine verbindliche Aussage zu der Thematik geben können, würden wir Ihnen empfehlen, die PVS-Module für NFDM und eMP zu beziehen, da Sie für diese eine Pauschale und eine Bezuschussung der laufenden Kosten von der KV erhalten.“
Kein Zuckerbrot, nur Peitsche
Dieses Schreiben ist exemplarisch für die an Ärzte gerichtete Kommunikation im Zusammenhang mit der TI.
Keiner weiß was etwas Genaues, aber wenn man Pech hat, drohen Honorarkürzungen durch die jeweils zuständige KV.
Wie wird den niedergelassenen Ärzten das große Projekt Digitalisierung also verkauft bzw. schmackhaft gemacht?
Gar nicht.
Es geht ja offensichtlich auch anders: nämlich unter Androhung finanzieller Sanktionen.
Warum auch über den Nutzen informieren oder über die Vorteile berichten, wenn es doch mit reiner rein negativ besetzten Kommunikation geht?
Kein Unternehmen könnte mit dieser Art von „Werbung“ irgendein Produkt an den Mann oder die Frau bringen!
Nächstes Thema …
Unausgegorene Technik I – das eRezept
Unter der Überschrift …
„Einzige E-Rezept-Pilotregion für Arztpraxen legt Vorhaben auf Eis“
… berichtet die WELT im November 2022:
„Nächster Rückschlag für das E-Rezept: Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) setzt die Einführung der elektronischen Verschreibung aus. Hierzu sehe man sich wegen der Haltung des Bundesdatenschutzbeauftragten gezwungen […]
Der Bundesdatenschutzbeauftragte hatte im Falle von Westfalen-Lippe befürchtet, dass es in der geplanten Form Datenmissbrauch in Apotheken geben könnte.
Für Privatversicherte gilt das Digitalrezept nicht.“
Und auch für die gesetzlich versicherten Patienten scheint es kein Renner zu sein:
Weiter heißt es im Artikel der WELT:
„In diesem Jahr wurden bisher nur rund 525.000 Digitalverschreibungen eingelöst. Zum Vergleich: Pro Jahr werden in Deutschland circa 500 Millionen Verschreibungen als rosa Zettelchen ausgestellt – der Anteil der Digitalverschreibung ist also verschwindend gering.“
Die Voraussetzungen für niedergelassene Ärzte, um ein solch fortschrittliches eRezept auszudrucken(!), sind auch nicht ohne.
Wir zitieren von der Website der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV):
„Anbindung an die Telematikinfrastruktur (mindestens mit E-Health-Konnektor, für Komfortsignatur mit ePA-(PTV4+)-Konnektor), eHBA 2.0 (für Komfortsignatur), PVS-Update, geeigneter Drucker mit Auflösung von 300 dpi für den Tokenausdruck“
Ein Drucker mit 300 dpi für den Ausdruck des „elektronischen“ Rezepts?
Wir ersparen uns an dieser Stelle jeden weiteren Kommentar …
Machen wir weiter mit dem Thema „Konnektorentausch“:
Unausgegorene Technik II – Konnektorentausch
Um die Segnungen der TI überhaupt nutzen zu können, ist ein sogenannter Konnektor notwendig – eine Hardware-Schachtel, die hinter dem WLAN-Router hängt.
Wir zitieren erneut von der Website der KBV:
„Konnektoren tragen Chips in sich, deren Laufzeit aus Sicherheitsgründen auf fünf Jahre begrenzt ist. Der Chip – die sogenannte gSMC-K-Karte – ist in den Geräten fest verbaut. Da die ersten Konnektoren im Spätherbst 2017 durch die CompuGroup Medical (CGM) produziert wurden, endet deren Laufzeit im Herbst 2022. Laut gematik ist deshalb ein Austausch des ganzen Konnektors notwendig.”
Wobei nicht der Chip in seiner Laufzeit begrenzt ist, sondern ein Sicherheitszertifikat, das laut Chaos Computer Club problemlos erneuert werden kann:
“Dieser Tausch soll das ohnehin angeschlagene Gesundheitssystem mit Mehrkosten von rund 400 Millionen Euro belasten. Der Chaos Computer Club (CCC) zeigt, dass der teure Hardware-Tausch alles andere als nötig ist, und spendiert kostenlos eine Lösung für das Problem.”
Und weiter:
„Hier will sich ein Kartell durch strategische Inkompetenz am deutschen Gesundheitssystem eine goldene Nase verdienen. Dabei werden immense Kosten für alle Versicherten, sinnloser Aufwand für einen Austausch bei allen Ärzten und tonnenweise Elektroschrott in Kauf genommen“
Doch die gematik hat anders entschieden
In einer Pressemitteilung lässt sie wissen:
“Die Möglichkeit der Zertifikatsverlängerung für einen Konnektor hat die gematik ihren Gesellschaftern mehrfach vorgeschlagen. Die Entscheidung für den Konnektortausch haben die Gesellschafter gemeinsam getroffen. Der Hardwaretausch wurde als insgesamt sicherste und wirtschaftlichste Lösung identifiziert.“
So sieht sie übrigens aus, die Gesellschafterstruktur der gematik:
- Bundesministerium für Gesundheit (BMG): 51%
- GKV-Spitzenverband: 22,05%
- Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV): 7,35%
- Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG): 5,88%
Unser Podcast-Video zum Thema:
KIM, MIOs …hä?
Wer immer sich all die Module und Anwendungen unter dem Dach der TI ausdenkt – wichtig scheint vor allem zu sein, dafür eine griffige Abkürzung zu finden.
Zum Beispiel „KIM“ – wir zitieren wieder von der Website der KBV:
„Der Kommunikationsdienst KIM (Kommunikation im Medizinwesen) ermöglicht es Praxen, medizinische Dokumente elektronisch und sicher über die Telematikinfrastruktur (TI) zu versenden und zu empfangen.“
Weiter geht´s mit den „MIOs“:
“MIOs (Abkürzung für: Medizinische Informationsobjekte) dienen dazu, medizinische Daten – etwa in einer elektronischen Patientenakte – standardisiert, also nach einem festgelegten Format, zu dokumentieren.
Das Konzept der MIO stammt von der KBV. Sie folgt damit dem Auftrag aus dem TSVG (Terminservice- und Versorgungsgesetz), die semantische und syntaktische Interoperabilität für Inhalte der elektronischen Patientenakte in Zusammenarbeit mit weiteren Institutionen und Organisationen zu erarbeiten und festzulegen.“
Wir haben keine weiteren Fragen …
Unser Zwischenfazit zum TI-Rollout
Das Ganze ist schlichtweg ein einziges Debakel!
Unausgereifter Krempel, der weder auf Seiten der Hardware noch der Software ausreichend erprobt und getestet ist, wird ohne jedwede Informationskampagne in den „Markt“ gedrückt.
Unter Androhung finanzieller Sanktionen für die Leistungserbringer.
Der ganze TI-Rollout entpuppt sich bisher als ein monströses, teures Unterfangen, dass an Dilettantismus kaum zu toppen ist.
Damit wir uns nicht falsch verstehen:
Doch warum in aller Welt werden die TI-Anwendungen nicht in Rahmen von Pilotprojekten mit Beta-Anwendern im kleinen Kreis getestet?
Und so lange repariert, optimiert und weiterentwickelt, bis das Produkt TI mit all seinen angedachten Komponenten zur Reife gebracht ist?
Um es dann, und erst dann(!) als einfach installier- und anwendbare Lösung für die Ärzteschaft und andere Leistungserbringer in der Fläche auszurollen?
Wir wollen aber nicht nur meckern, sondern auch etwas Konstruktives beitragen:
Drei Forderungen zur Telematik Infrastruktur
Unsere erste Forderung:
#1 Plug and play oder nichts!
Ärzte haben Besseres zu tun, als sich mit unausgegorenen Hard- und Software-Lösungen rumzuschlagen.
Das Ganze muss einfach sein und direkt ab Werk funktionieren – siehe Apple-Produkte.
Dabei ist die Altersstruktur der Ärzteschaft zu berücksichtigen. Die allermeisten Ärzte in der Praxis fallen weder in die Gruppe der „digital natives“ noch der „early adopter“.
Unsere zweite Forderung lautet:
#2 Positive Kommunikation statt Drohungen
Es müssen der Nutzen und die Vorteile der TI kommuniziert werden – in Verbindung mit dem Versprechen, dass alles einfach anzuwenden ist.
Sanktionsandrohungen erzeugen bei der Ärzteschaft nur Widerwillen und senken die Bereitschaft, sich auf das Thema Digitalisierung einzulassen.
Und Forderung Nummer drei …
#3 Guckt endlich über den Tellerrand
Warum muss in Deutschland jeder Krempel selbst von Grund auf neu entwickelt werden?
Werft einen Blick ins Ausland: Dänemark, Niederlande usw.
Wir müssen uns eingestehen: wir hinken hinterher.
Also besser funktionierende Lösungen kopieren und adaptieren als völlig von vorne anzufangen!